ESSAY-BRIEF

Essay-Brief  Dezember 2017

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Präsenz und Vollkommenheit

© Bernd Helge Fritsch

 

Werden wie die Kinder

Wie im Matthäus-Evangelium erzählt wird, ereiferten sich die Jünger Jesu eines Tages darüber, wer von ihnen dem Himmelreich am nächsten sei (Mt. 18,1 und Mk. 9,33). Anders gesagt: ihre Egos stritten darum, wer von ihnen am meisten „erleuchtet“ sei. Worauf Jesus ein Kind herbeirief, es in ihre Mitte stellte und sprach:

„Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder,

so könnt ihr niemals in das Himmelreich eingehen.“

 

Was unterscheidet kleine Kinder – soweit sie nicht auch schon unter dem Ego-Virus leiden – von den Erwachsenen?

Es ist ihre totale Präsenz, ihre Hingabe an den Augenblick, ihre Freiheit von rastlosem Denken. Es ist ihre Fähigkeit staunend die Wunder der Welt zu beobachten, ohne das Wahrgenommene sofort in alte Gedankenmuster einzuordnen und als „gut oder schlecht“ zu bewerten.

Jesus erklärt seinen Jüngern, dass „die Engel der Kinder das Angesicht des Vaters im Himmel schauen“ (Mt. 18,10). Der „Engel eines Kindes“ ist sein „Selbst“, das „reine Bewusstsein“, der unsichtbare göttliche Wesenskern eines jeden Menschen. Solange kleine Kinder frei vom Ego-Denken mit seinen Nöten, Sorgen und Problemen sind, leben sie noch im „Paradies“. Total gegenwärtig sind sie eingebettet in die Seligkeit des himmlischen Seins. Für sie ist alles vollkommen. Sie atmen Vollkommenheit, sie sind Vollkommenheit.

In der Hingabe an ihre Spiele kennen kleine Kinder keine Zeit. Für sie gibt es nur Gegenwärtigkeit. Sie kümmern sich weder um das Gestern noch um den morgigen Tag. In ihrem Lachen, in ihrer Freude, in ihrem Hüpfen und Tanzen, in ihrer spontanen Liebe zur Natur, zu allen Tieren und Menschen spiegelt sich ihr „Himmelreich“.

Kinder lieben das Sein wie es ist und vertrauen ihm bedingungslos. Sie sind noch verbunden mit der unsichtbaren Welt, aus der sie kommen. Das strahlen sie aus und bezaubern auf diese Weise ihre Umgebung.

Der Verlust der Einheit

Allerdings können wir beobachten wie sich bei Kindern schon bald ihr Ego entfaltet. Dadurch entfernen sie sich nach und nach von ihrer ursprünglichen Einheit mit dem Sein. Auftauchende Ängste, Eifersucht, Wünsche, Haben-Wollen, Gekränkt-Sein, Enttäuschungen, Ärger und Zorn kennzeichnen die Entwicklung des heranwachsenden Menschen von der Einheit in die Trennung.

Die Trennung vom Paradies erfolgt durch unsere duale Denkweise. Bekanntlich wurden Adam und Eva vom Paradies ausgestoßen, weil sie verbotener Weise vom Baum der Erkenntnis von „Gut und Böse“ (1. Mose 2,8 ff.) aßen.

Durch ihr „Gut- und Böse-Denken“ fallen die Menschen in die „Zwei-heit“, mit all ihren Unsicherheiten, mit ihren Ängsten und „Zwei-feln“. Nunmehr ist ihr Leben von „Beurteilen und Verurteilen“, von „Wollen und Nichtwollen“, von „Erfolgen und Misserfolgen“, von „Freuden und Schmerzen“ geprägt.

Weil der Mensch die Seligkeit des Eins-Seins verloren hat, befindet er sich – bewusst oder unbewusst – in einem permanenten Zustand der Suche nach dem Glück. Doch seine Versuche Erfüllung in der äußeren Welt zu finden, werden letztlich immer wieder scheitern. Je intensiver wir uns um Erfolg und Glücklich-Sein bemühen, desto mehr Verirrung, Kampf, Stress, Enttäuschungen und Leiden stellen sich ein.

Die Realität des Lebens

Mit seiner kritischen und oft misstrauischen Einstellung zur Welt vermeint der Erwachsene die „Wirklichkeit“ des Seins zu erkennen. Die Erwachsenen leben jedoch in einer Traumwelt. Sie befinden sich in einem Traum von Mangel und Vergänglichkeit, von Krankheit und Tod. Während die kleinen Kinder noch die „Wahrheit“, das heißt, die Freude und Fülle des Lebens, die Göttlichkeit des Seins schauen.

Tatsächlich ist die Vollkommenheit der Welt, wie sie die Kinder empfinden, die „Realität“ der Welt. Die Erwachsen hingegen verirren sich, durch ihr duales Denken und Urteilen, in der Illusion der Maya. Die Erwachsenen sind vielleicht geübter im Umgang mit dieser Scheinwelt. Doch wenn sie nicht lernen, „wie die Kinder zu sein“, wenn sie nicht in die Einheit und Vollkommenheit zurückkehren, werden sie das „Himmelreich“, werden sie tiefen Frieden und anhaltende Freude nicht verwirklichen.

Alles ist Eins

„Alles ist Brahman!“ Diese Worte umfassen die Essenz der altindischen Weisheitslehren. Sie bringen zum Ausdruck: Alles ist „Eins“, alles ist vollkommen, alles ist Gott. Nichts kann neben dieser Vollkommenheit existieren. Sogar die menschliche „Unwissenheit“ und die Leiden, die mit ihr verbunden sind, machen – aus einer höheren Warte betrachtet – Sinn und sind Teil dieser allumfassenden Vollkommenheit.

Das universelle Bewusstsein (Gott) ist eigenschaftslos und zugleich der Ursprung aller Eigenschaften. Es lässt alle Erscheinungen entstehen und vergehen. Es durchdringt alles und lenkt alles. Nichts geschieht außerhalb seiner Weisheit und Liebe. „Bei Gott ist sogar jedes deiner Haare gezählt!“ (Mt. 10,30)

Diese Philosophie wird gemäß altindischer Tradition „Advaita“ (Sanskrit: „Nicht-Zwei“) genannt. Nach ihrer Lehre ist die Vielfalt des Lebens nur eine Manifestation der „einen Wirklichkeit“. Von ihr werden alle Formen erschaffen, eine Zeitlang am Leben erhalten und letztlich von ihr wieder aufgelöst.

Mit anderen Worten ausgedrückt: Gott präsentiert sich in der äußeren Welt in verschiedensten Formen, mal als Stein, als Wasser, als Pflanze, Tier oder Mensch. Doch er bleibt dabei immer nur das „Eine“, allumfassende Sein. Die Verkleidungen, die Masken und Kostüme, mit denen Gott in der Welt erscheint, verändern sich ständig, sie kommen und gehen und haben daher nur vorübergehende Bedeutung.

Die individuelle Gottheit

In jedem Menschen manifestiert sich Gott in einer einmaligen Form. Schon äußerlich betrachtet gleicht kein Körper, kein Auge, kein Fingerabdruck eines Menschen dem eines anderen. Weit größer noch sind die Unterschiede der Menschen, wenn wir in ihre Seele blicken. Dort, in seinem Inneren, lebt jeder Mensch in einer eigenen, einzigartigen Gedanken- und Gefühls-Welt.

Diese Manifestation geht so weit, dass Gott in der einzelnen menschlichen Gestalt seine Herkunft, sein eigentliches Wesen, sein „All-Eins-Sein“ „vergisst“. Von Kindheit an identifiziert sich der Mensch immer deutlicher mit seinem vergänglichen Körper, mit seinem Charakter, mit seinem Denken, Fühlen und Wollen, mit seiner Familie, seinen Besitztümern und mit all dem, was scheinbar zu ihm gehört. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle eigentlich nur „spielen“ sollte, der sich jedoch dabei in schizophrener Art in seine Rolle verliert, wird der Gott im Menschen durch sein verkehrtes Ego-Denken zu einem, von der übrigen Welt getrennten, von Mangel, Alter, Krankheit und Tod bedrohtem, vergänglichen Einzelwesen.

Erst wenn sich in uns das göttliche, doch in der Folge vermenschlichte Bewusstsein seiner Einheit mit seinem Ursprung, mit seinem „Vater“ besinnt, können wir aus diesem Alptraum erwachen. Bei entsprechender Achtsamkeit, Gegenwärtigkeit und Innenschau verbindet sich der „Gott in uns“ wieder mit dem universellen Bewusstsein. Der „verlorene Sohn“ (Lk. 15,11-ff.) kehrt auf diese Weise mit einem neuen, höherem, individuellen Bewusstsein, welches er während seiner lust- und schmerzvollen Trennung von der Einheit erlangt hat, zurück ins „Vaterhaus“. Jetzt erst wird der Mensch seiner Bestimmung gerecht, jetzt erst wird er zum „Ebenbilde Gottes“, jetzt erst erlangt er Zutritt zum „Baum des ewigen Lebens“ (1. Mose 3.22-ff.) und wird dessen Früchte ernten.

Maya, die Göttin der Illusion

Der Mensch kann aus der allumfassenden Einheit nicht wirklich austreten. Niemals hat ein Wesen die „Eins“, das Gott-Sein, tatsächlich verlassen. Trennung entsteht nur in unserem Denken. Trennung von der „Eins“ ist die große Illusion – Einheit hingegen ist die immerwährende Realität.

Trennung entsteht durch die Art, wie wir Menschen die Welt wahrnehmen und sie interpretieren. Der „Gott im Menschen“ sieht am Beginn seines Entwicklungs-Weges nur die vergänglichen Formen der Welt nicht aber das Wesentliche, den untrennbar mit ihnen verbundenen geistigen Ursprung. Auf diese Art entsteht für den Mind des Menschen eine völlig verzerrte „Wirklichkeit“.

Stell dir vor, deine Augen funktionieren so, dass du alle Menschen ohne Kopf wahrnimmst. Du bist einfach blind für menschliche Köpfe. Auf diese Weise entgeht dir das Wichtigste, entgeht dir die „Haupt-Sache“ der menschlichen Erscheinung. In einem ähnlichen Bewusstseins-Zustand befindet sich der „normale“ Mensch in Bezug auf die geistige Welt. Er sieht nur vergängliche Erscheinungen, nicht aber das formlose, unvergängliche Sein, aus der alle Formen entstehen und wohin sie wieder zurückkehren. Dadurch erkennt der Mensch die Welt nicht so, wie sie ist, sondern er lebt in einem Traum, in einer sehr beschränkten, engen Welt voller Schwierigkeiten. Er lebt in einer Illusion.

Symbolisch wurde in der alten indischen Weisheitslehre für diese Täuschung die Göttin Maya verantwortlich gemacht. Sie inszeniert ein Schauspiel in dem es Polaritäten wie „Gut und Böse“, „Weisheit und Unwissenheit“, „Leben und Tod“, in dem es Kausalität, Karma, Zeit und Vergänglichkeit gibt. Solange der Mensch aus diesem Traum nicht erwacht, „muss“ er bei diesem Spiel mitmachen, muss er die Leiden und Freuden dieses Spiels ertragen. Doch sobald er dieses Spiel der Maya durchschaut, befindet er sich befreit von aller Mühsal auf einer höheren Bewusstseins-Ebene.

Äußerlich unterscheidet sich diese befreite Seele nicht von anderen Menschen. Sie lebt und wirkt weiterhin „in“ der Welt. Doch ihr ist bewusst, nicht „von“ dieser Welt zu sein. Sie hat ihr wahres Sein erkannt und damit verwirklicht sie ihre Einheit mit allem Sein. Die scheinbaren „Zwänge“ der äußeren Welt haben ihre Macht über sie verloren. Liebevoll und gelassen glücklich und zufrieden beobachtet sie das Treiben in der Welt.

Denke Vollkommenheit

Bei entsprechender Achtsamkeit können wir erkennen, dass alles vollkommen ist. Wir erkennen, dass wir in unserem Innersten unvergängliche Liebe, anhaltende Seligkeit und tiefer Frieden sind. Wir dürfen erkennen, dass wir die Welt – wie wir sie wahrnehmen – mit unserem Denken fortlaufend gestalten. Denn unser Denken birgt göttliche Schöpferkraft in sich. Deshalb:

Denke Vollkommenheit und du wirst Vollkommenheit erfahren!

 

Mach dir immer wieder bewusst, insbesondere wenn dich etwas stört oder ärgert, wenn du Angst hast, wenn dich etwas unglücklich oder traurig macht: „Alles ist Eins, alles ist Gott, alles ist vollkommen!“ Es ist nur unsere „Kurzsichtigkeit“ die uns an Mangel und Unvollkommenheit glauben lässt.

Hüte dich vor der Kraft deiner Gedanken! Was du denkst, wirst du ernten!“ Negatives Denken dich krank machen und liebevolles Denken und insbesondere dein Nicht-Denken, die innere Stille, werden dich heilen.

 

Fortsetzung folgt