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Essay-Brief September 2013

Die Essenz der Bhagavad-Gita – Teil II. – Jiva, die unsterbliche Seele

© Bernd Helge Fritsch

 

Sich selbst zu erkennen, bedeutet sich von den Zwängen des Egos zu befreien. Es bedeutet Erlösung von Hoffen und Angst. Ein tiefes Gefühl von Geborgenheit, der Zufriedenheit und der Liebe stellt sich ein. In der Selbsterkenntnis verwirklicht sich unsere Individualität.

Die Wurzel des Egos ist Unwissenheit. Die Befreiung beginnt wenn wir die Zusammenhänge des Lebens erkennen. Die Gita öffnet uns dafür einen Weg.

Wie im letzten Essay-Brief erwähnt, erklärt die allumfassende Gottheit „Krishna“ in der Gita:

Gita 10: 20 Ich bin das Selbst, welches in den Herzen aller Geschöpfe wohnt. Ich bin der Anfang, die Mitte und das Ende aller Wesen.

 

Damit ist grundsätzlich schon beantwortet, wer sind: Wir sind, schlicht und ergreifend, im Grunde unseres Wesens nichts anders als das „Höchste“, welches in allen Geschöpfen wohnt. Wir sind das Bewusstsein, die Weisheit, die Liebe aus der alle Schöpfung entspringt.

Doch mit Recht wird sich mancher Leser bei den vorstehenden Zeilen denken: „Klingt sehr schön und erhaben, was ich da von mir höre, doch meine Realität sieht gewaltig anders aus!“ Tatsächlich kann der Mensch, am Beginn seines Weges zu sich selbst, seinen göttlichen Kern weder wahrnehmen, noch leben. Denn das „Selbst“ wird durch das Schauspiel der Welt (maya) verschleiert.

Das „universelle Bewusstsein“, auch „allumfassende Gottheit“ oder „Brahman“ – in der Gita „Krishna“ genannt, bildet als „göttlicher Funke“, als das „Selbst“ (atman) unseren unvergänglichen und unbeschreibbaren Wesenskern. Shankara, der große indische Weisheitslehrer (siehe mein Buch „Das Kleinod der Unterscheidung“), vergleicht die Beziehung zwischen unserem Selbst und der allumfassenden Gottheit mit dem Raum in einem Wasserkrug zum Raum unseres Universums. Beide „Räume“ sind von gleicher Substanz und haben doch voneinander verschiedene Funktionen.

Zum besseren Verständnis können wir drei „Ichs“ des Menschen – die letztlich Eins sind - unterscheiden: Den „Atman“, den „Jiva“ und die „Person“.

Das göttliche, unmanifestierte, mit dem Verstand nicht begreifbare „Selbst“ (atman) bildet den Kern jedes Menschen. Dieser Kern verbindet sich in der erscheinenden Welt mit einem Körper und mit einem Mind (Denken, Fühlen, Wollen) und wird so zu einer Individualität – zu einer einzigartigen „Seele“ (sanskrit jiva).

15: 7 Krishna: Teile meiner Göttlichkeit bilden den ewigen Kern eines jeden Wesens in der erscheinenden Welt. Dieser Kern verbindet sich im Menschen mit den Kräften der sechs Sinne, zu denen auch der menschliche Geist gehört, und wird so zur menschlichen Seele (Jiva).

 

Jeder Mensch ist etwas Einmaliges. Er wurde zum „Ebenbilde Gottes“ geschaffen (siehe 1.Mose 1,27). Man kann ihn auch als einen „Gott im Werden“ bezeichnen. Von der übrigen Natur (Mineralreich, Pflanzen, Tiere) unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht nur ein Geschöpf des „universellen Bewusstseins“ ist, sondern dass er auch, zum einem gottgleichen „Schöpfer“ auserkoren ist. Er hat die Anlage zu einem Schöpfer zu werden. Um allerdings ein freies, ewiges, gottgleiches Wesen zu werden muss er sich bewusst selbst schöpfen. Dieser Akt wird als „Selbstverwirklichung“ bezeichnet.

Der Jiva wiederum manifestiert sich als „Person“ in der von den Sinnen wahrnehmbaren Welt. Die „Person“ wird in einem bestimmten Körper geboren und spielt im Laufe eines Lebens verschiedene Rollen bis sie wieder stirbt.

Aus Unwissenheit identifizieren sich fast alle Menschen mit der „Person“, die geboren wird, heranwächst, ihre Rollen spielt, schließlich krank und alt wird und wieder vergeht.

Die Person weiß in der Regel nichts von ihrem göttlichen, unvergänglichen Ursprung. Deshalb fühlt sie sich als isoliertes Einzelwesen und kämpft als solches um ihre „Existenz“. Sie wird beherrscht von Wünschen und Ängsten. Aus dieser Geisteshaltung entspringen Ärger, Zorn, Eifersucht, Hass, Begierde, Ehrgeiz, Streitsucht, Sturheit, Intoleranz, Stress, Depressionen usw. Zwangsläufig wird so die „Person“ zum „Ego“.

Hinter diesem Drama, verbirgt sich die Weisheit und Liebe Brahmans. Unsere Person, abgetrennt von der Einheit, verstrickt in die Leiden, hervorgerufen durch unser Ego, ist der Preis den wir für die Erlangung unserer Individualität bezahlen. Unsere Einmaligkeit kann sich nur durch die Sonderung aus der Einheit mit Gott (dem universalen Bewusstsein) entwickeln. Wir müssen zuerst zum „verlorenen Sohn“ werden, um sodann als eigenständiges Wesen in das Vaterhaus zurück zu kehren (siehe Lukas 15: 11-32).

Gita 7: 27 Krishna: Die Menschen sind in Täuschung  geboren. Sie sind verblendet von dualen Vorstellungen und überwältigt von ihren Begierden und Abneigungen.

 

Jene aber, die ihren Ego-Willen abgelegt haben und sich von ihren dualen Täuschungen befreien, sind in der Lage mich in ihr Bewusstsein aufzunehmen.

Wie sich das universelle Bewusstsein (brahman) in den Erscheinungen der Welt manifestiert, so manifestiert sich unsere Seele (jiva) in unserer Persönlichkeit. Wie die erscheinende Welt eine grandiose göttliche Formen-Auswahl aus unendlichen Möglichkeiten des universellen Bewusstseins ist, so offenbart sich unsere Seele in einem von ihr gewählten Körper und Geist, in der von ihr gewählten Umgebung und mit dem von ihr gewählten einmaligen Schicksal.

Nach altindischer Vorstellung wird diese Seele immer wieder geboren. Sie wandert auf ihrem Entwicklungsweg von Körper zu Körper und nimmt dabei jeweils ihre individuellen Charaktereigenschaften mit.

15: 8 Wie der Wind verschiedene Düfte mit sich trägt, so nimmt die Seele die Kräfte der sechs Sinne mit, wenn es den Körper verlässt und bringt sie wieder mit sich, wenn sie sich aufs Neue mit einem Körper verbindet.

 

Dieser Kreislauf von Leben zu Leben wiederholt sich solange bis wir uns selbst von unserem Karma befreien, uns selbst verwirklichen und so als Gottheit ewiges Leben erlangen.