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Essay-Brief September 2012

Loslassen

© Bernd Helge Fritsch

 

Die Empfehlung: „So lass doch los!“ zählt zu den beliebtesten „Rat-Schlägen“, die man von Psychotherapeuten und wohlmeinenden Freunden zu hören bekommt, wenn man sich in einer Krise befindet. „Loslassen“ ist zwar tatsächlich das Klügste, was wir überhaupt machen können, doch dieser Ratschlag löst in der Regel bei dem, der dringend loslassen sollte, nur Reaktionen der Wut, der Verzweiflung und das Gefühl des Nicht-Verstanden-Seins aus. Denn „Nicht-Loslassen-Können“ ist gerade das, was die Probleme verursacht und das Loslassen ist das, was der Betroffene in seiner Situation am allerwenigsten akzeptieren will.

Wann ist Loslassen besonders gefragt? Wenn uns ein lieb gewordener Mensch verlässt; wenn unsere Kinder Irrwege gehen; wenn wir gegen Probleme am Arbeitsplatz ankämpfen müssen; wenn wir oder nahe Mitmenschen krank sind; wenn wir Geldprobleme haben; wenn wir uns von einer Sache trennen müssen, die wir sehr gerne haben; wenn wir nicht erreichen, was wir wollen; wenn Träume zerplatzen…

Bei den meisten Menschen haben sich Denken und Fühlen verselbstständigt. In Verbindung mit unserem „kleinen Ich“ sind die Gedanken ständig mit der Zukunft, mit Plänen, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Sorgen oder mit der Vergangenheit, mit unverdauten Ereignissen, Kränkungen, Trauer, Träumereien beschäftigt. Die Gedanken „haften an“. Wir spüren so nicht was wir wirklich sind, sondern unser Bewusstsein ist ausgefüllt mit diesen Gedanken und den mit ihnen verbundenen Gefühlen. Wir „sind“ in diesem Zustand das, was unser Denken intensiv beschäftigt: Begehren, Wünsche, Hoffnung oder Ärger, Angst, Trauer. Dieses „Anhaften“ unserer Gedanken hindert uns daran, das Wunder des gegenwärtigen Seins in seiner ganzen Weite und Tiefe zu erfassen und zu genießen. Das was wir wirklich „sind“, nämlich reines Bewusstsein, Liebe und Glückseligkeit findet keinen Platz mehr in unserem Leben.

Für viele Menschen ist das „Loslassen“ ein riesiges Problem. Sie fragen sich: „Warum sollte ich loslassen? Ich will doch das haben, wovon ich mir Freude erwarte!“  Sie träumen von der großen Liebe, von Geld, Erfolg, Anerkennung, wunderbaren Erlebnissen oder gar von Erleuchtung… Nicht zuletzt wollen sie das loswerden, womit sie anscheinend rettungslos verbunden sind, ihre Schwächen, ungeliebtes Verhalten der Mitmenschen, unangenehme Lebens-Situationen. Das heißt, sie können weder von dem „los-lassen“, was sie begehren, was aber nicht ist; noch das „zu-lassen“, was ist, was sie jedoch ablehnen.

Loslassen bedeutet annehmen, was ist. Auflehnung gegen das, was „jetzt“ ist, hilft uns nicht weiter, sondern schadet nur der eigenen Seele. Innerer Frieden, Harmonie mit dem Sein, kann sich erst dann einstellen, wenn wir die Welt vorerst liebevoll akzeptieren wie sie ist. „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr davon? Lieben nicht auch die Sünder ihre Liebhaber?“ (Luk.6,32). Liebevoll annehmen, was ist, bedeutet nicht Resignation oder sich alles gefallen lassen, wie ich immer wieder betone. Doch Akzeptanz ist die Voraussetzung für weisheitsvolles Verhalten.

Widerstand gegen das, was „jetzt“ ist, verursacht einen inneren Konflikt mit dem Leben. Wer aufmerksam seine Gedanken und Gefühle beobachtet, spürt wie bei jedem inneren Widerstand gegen das, was uns gerade begegnet, Ärger, Verkrampfung, Unlustgefühle in uns auftauchen und oft über Stunden, Tage und Wochen anhalten. Widerstand statt „Loslassen“ und „Zulassen“ führt zu innerer Verspannung, Konzentrationsstörungen, Gedankenkreisen, Fehlentscheidungen, Suchtverhalten, Selbstverurteilung, Selbstmitleid, zu Wut, Hass, Aggression und in schweren Fällen zu Panikattacken, Burn-Out und Depression. Wer von uns kennt nicht in der einen oder anderen Form diese Folgen und hat darunter gelitten?

Das Leben ist das, was es gerade jetzt ist. Wenn wir unsere Lebensumstände erfolgreich verändern wollen, so müssen wir uns zuerst aussöhnen mit dem was ist. Wenn wir die „neutrale“ Liebe zum Sein, ohne nervöses Wünschen und Ablehnen „zu-lassen“, können wir erkennen, was wirklich unsere Aufgabe ist. Wir begreifen, wo und wie wir aufgerufen sind an Veränderung in unserem Leben, in dieser Welt, mitzuwirken. Und in der Folge werden wir fähig sinnvoll zu handeln und kein neues Karma anzuhäufen.

Zulassen und Loslassen fällt uns leicht, wenn wir eines der wichtigsten Lebensgesetze verinnerlicht haben: „Das Schicksal macht keine Fehler!“  Dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, dann verurteilen wir nichts und niemanden. Damit schaffen wir Raum für Vertrauen, für Liebe und für die Fülle des Lebens. Diese Fülle umgibt uns ständig und wartet nur darauf, dass wir loslassen und zulassen.

Doch das Ego vermeint ständig sein Umfeld und auch sich selbst verändern und verbessern zu müssen. Durch unnützes „Viel-Denken“ (die Gedanken um die Probleme kreisen lassen) und durch mühevolle Anstrengung glaubt das Ego seine Probleme lösen zu können und verstrickt sich dabei in immer neue Schwierigkeiten. Der Ego-Verstand will die Probleme lösen, die er selbst geschaffen hat. Das kann nicht funktionieren. Der Verstand kann nur mit alten Erfahrungen und Wissen operieren. Doch die Gegenwart ist immer neu. Daher benötigen wir unsere innere Weisheit, unsere Intuition um kreative Entscheidungen zu treffen. Wenn wir loslassen und zulassen, das heißt innerlich stille werden, ergeben sich alle notwendigen Veränderungen wie von selbst.

Das wahre „Yoga“ – die Verbindung zum Sein - verwirklicht sich im Still-Werden des Mind. Doch wie erlangen wir diese Stille in unserem Geist?

Patanjali erklärt in seinen berühmten „Yoga-Sutras“:

„Durch Übung (abhyasa) und Loslassen (vairagya) kommt der Mind zur Ruhe.“(12.)

 

Die „Übung“ besteht darin, immer wieder die Vorgänge in unserem Mind neutral (ohne Bewertung) zu beobachten. So gewinnen wir Abstand von den rastlosen Aktivitäten unseres Denkens und den damit verbundenen unruhigen und belastenden Gefühlen.

Patanjali:

„Beständiges Ringen die Wellen des Denkens im Zaum zu halten bedeutet Übung.“ (13.)

 

Die ständige Wiederholung dieser Übung ist solange erforderlich, bis die uralten Konditionierungen unseres Unterbewusstseins umprogrammiert sind. Das kann Monate und Jahre dauern, doch die ersten Früchte dieser Übung werden sich bald einstellen.

Zum „Loslassen“ erklärt Patanjali:

„Losgelöstheit wird denen zuteil, die dem Durst nach Sichtbarem und Hörbarem entsagen…“ (15.)

 

Was ist das „Sicht- und Hörbare“? Fast alle Menschen suchen das Glück im Außen. Sie streben nach glücklichen Beziehungen, nach Wohlstand, persönlichen Fähigkeiten und beglückendem Sex. Das ist gut so. Doch das Ego ist nie zufrieden. Sein „Durst“ ist nicht zu stillen. Es strebt immer nach „besser“ und „mehr“. Es will mehr haben, mehr konsumieren, mehr geliebt werden, besser sein, erfolgreicher sein… Das Ego schlägt Purzelbäume mit Neid, Besser-Wissen, Streiten, Verurteilen, Sich-Vergleichen, Sich-Bedauern, Sich und Andere-Verurteilen. Dafür kämpft es, leidet es, duldet es, betet es…

„Dem Durst nach Sicht- und Hörbarem zu entsagen…“ besagt nicht, dass wir auf die Freuden des äußeren Lebens verzichten sollen. Nicht der Genuss führt zum Leid, sondern das „Er-Denken“, das „Er-Wünschen“, das „Er-hoffen“ des Genusses. Wünschen bedeutet „nicht haben doch haben wollen“ und das ergibt Leid. Der Weise genießt die Geschenke des Daseins ohne an ihnen zu haften. Er nimmt dankbar an, was ihm geschenkt wird und verschwendet keine unnützen oder belastenden Gedanken auf „mehr“ oder auf das, was er nicht hat. Wer wünscht, genießt nicht den Nektar der Gegenwart, sondern verliert sich in der Zukunft. Er hofft und fürchtet. „Durst“ baut auf die Zukunft. Wer wünscht „er-denkt“ das Glück, statt im Glück des gegenwärtigen Seins zu verweilen. Er kann die Tiefe und Seligkeit des Augenblicks nicht fassen. Er begreift nicht das Geheimnis: „Würde er loslassen, so hätte er alles erreicht.“

Das „Wünschen“ und das „Bitten“ wurden uns von klein auf angelernt. Wenn wir schön brav bitten, bekommen wir vielleicht das Erwünschte. Wie viele Kinderbriefe bekommt das Christkind zu Weihnachten mit den Worten: „Bitte liebes Christkind, schicke mir...; mach, dass…“? Kindliches Wünschen ist normal und gut. So wie das Ego-Denken gut ist, solange es einer natürlichen und notwendigen Entwicklungsphase entspricht. Doch ein erwachsener Mensch, der erwachen und nicht unnötig leiden will, sollte darüber hinausgehen.

Wie der große Mystiker Meister Eckehart sagt: „Wer (Gott) um dies oder jenes bittet, der bittet um Übles und in übler Weise, weil er um die Verneinung des Guten und um die Verneinung Gottes bittet, und er betet darum, dass Gott sich ihm versage.“  (Diese Aussage und weitere 26 Lehrsätze des Meister Eckehart wurden im Rahmen eines Inquisitionsverfahrens durch die Bulle des Papstes Johannes XXII. vom 27. März 1329 verdammt.)

Alle großen Weisheitslehrer empfehlen die Aufgabe des Egos, die „Hingabe“ an das Sein. In der Einleitung zum „Vater unser“, dem Gebet, welches Jesus seinen Jüngern gelehrt haben soll (Mat. 6,7-13) lesen wir: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen... Euer Vater weiss, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet… Darum sollt ihr also beten… dein Wille geschehe…“

Im weiteren Text artet allerdings dieses Gebet, im Widerspruch zu „dein Wille geschehe“ in ein „Wunsch- und Bittgebet“ aus. Es ist daher anzunehmen, dass dieser Text, wie viele andere Sätze in den Evangelien, nicht den ursprünglichen Worten dieses großartigen Lehrers entspricht.

Das Universum will keine „Bittsteller“, sondern freie Menschen, die bereit sind nach innen zu schauen, zu erkennen und loszulassen.

Das wahre Gebet ist ein „Dank-Gebet“. Gott bitten bedeutet Gott verleugnen. Mit dem Danken schaffen wir die inneren Voraussetzungen um uns für das Universal-Bewusstsein und seine Geschenke zu öffnen. Danken erübrigt Wünschen und Bitten. Der Weise dankt für das Angenehme, das ihm begegnet und auch für das Unangenehme, denn er hat erkannt: „Das Schicksal macht keine Fehler!“ „Der Vater weiß, was ihr bedürftet, eher ihr ihn bittet!“ Selbst Schmerzen und Leid haben ihre Mission in der göttlichen Einheit.

Die meisten Menschen haben in ihrem Leben schon die Erfahrung gemacht, dass Werke am besten gelingen, wenn wir sie nicht erzwingen wollen, sondern mit Leichtigkeit und „Gottvertrauen“ an die Arbeit herangehen. Wenn wir uns der in uns wohnenden universellen Weisheit anvertrauen und „ES geschehen lassen“ so erreichen wir unser Ziel mühelos und viel vollkommener als wenn wir etwas erzwingen wollen.

Dieses „Gesetz des Loslassens“ bestätigt sich besonders gut erkennbar bei sportlichen Bewerben. Kaum beginnt ein Sportler während eines Spieles zu denken „jetzt muss ich gewinnen!“, „jetzt muss ich den perfekten Schlag landen!“ oder „Ich darf jetzt keinesfalls einen Fehler machen!“ – schon regiert ein verkrampftes Wollen und die natürliche Weisheit, Eleganz und Leichtigkeit sind wie weggeblasen. Auch ein guter Redner muss loslassen können, um zu spüren welche Gedanken, welche Worte, welche Dynamik der Augenblick verlangt. Der gute Redner will nicht gut sein, sondern er lässt „ES“ sprechen.

Wer seine Wünsche, seinen „Ego-Willen“ aufgibt, dem gehen alle Wünsche in Erfüllung und er erreicht alle Ziele ohne Ziele zu haben. Ohne etwas zu wollen geschieht mehr als er sich je zu erträumen wagt.

 

Mit herzlichen Grüßen

Euer Bernd