Erlösende Weisheit (Teil 2) - Jnana Yoga
© Bernd Helge Fritsch
Der Mensch ist nicht nur ein Geschöpf des universellen Geistes, wie dies für Mineralien,
Pflanzen und Tiere gilt, sondern ist selbst mit „Schöpfer-Kraft“ ausgestattet. Er
hat grundsätzlich die „Freiheit“ sein Leben, seine Umwelt, sein Schicksal im Rahmen
der universellen Gesetze selbst zu gestalten. Bei ihm liegt die Entscheidung, ob
er den Weg zur „individualisierten Gottheit“ gehen will.
Wie im letzten Essay-Brief angesprochen, entstammen alle Erscheinungsformen dem universellen
Bewusstsein. Sie sind durch und durch eins mit dem allumfassenden Sein, auch „Gott“
genannt, doch sie haben in der Regel kein Bewusstsein von dieser Göttlichkeit. Jeder
Mensch trägt in sich die „Anlage“ dieses Bewusstsein zu verwirklichen. Damit verwirklicht
er seine höchste Berufung. Er wird zu einer „individualisierten Gottheit“ und auf
diese Weise unsterblich, unbegrenzt und vollkommen.
Jedem Menschen werden auf seinem Erden-Weg, der ihm die Chance zur Selbstverwirklichung
(Verwirklichung der individuellen Gottheit) gibt, folgende „Werkzeuge“ mit gegeben:
- der Körper mit seinen fünf Wahrnehmungsmöglichkeiten (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken,
Riechen)
- der Mind (bestehend, kurz gesagt, aus: Denken, Erinnerung, Verhaltensmuster, Fühlen,
Wollen…)
- der göttliche „Funke“ (auch das SELBST, der Atman, der Buddha oder Christus in dir
genannt).
Unser Mind wird nach alter indischer Weisheit von den drei Gunas (Sanskrit – Eigenschaften,
die die „Urmaterie“ bilden) geprägt:
- Rajas = Tatendrang, Leidenschaft, Rastlosigkeit, Schöpferkraft, Energie
- Tamas = Trägheit, Genusssucht, Dunkelheit, Chaos
- Sattva = Einsicht, Klarheit, Güte, Harmonie,
Jeder kann bei entsprechender Selbstbeobachtung diese Eigenschaften in seinem Seelenleben
erkennen. Der Charakter und das Verhalten eines Menschen werden von seinen individuellen
Guna-Kräften geprägt. Diese, von der Natur uns mitgegebenen Kräfte, sind wichtige
Werkzeuge um unsere Mission auf der Erde zu erfüllten. Wir benötigen Rajas um uns
tatkräftig mit unseren Lebensaufgaben auseinander zu setzen und um schöpferisch zu
wirken. Herrscht Rajas vor, so führt dies zu hoher Aktivität. Tamas sorgt für Erdverbunden-heit.
Bei intensiver Ausprägung verursacht es eine starke Bindung an den Körper. Durch
Sattva werden Rajas und Tamas in sinnvolle Bahnen gelenkt. Sattva schenkt dem Menschen
Weisheit und Ausgeglichenheit und ermöglicht ihm letztlich sich über seine Guna-Natur
zu erheben.
Die enge Verbindung unseres SELBST (göttlicher Funke in uns) mit unserem Körper und
unserem Mind führt dazu, dass dieses Selbst verschleiert wird. Wie Wolken die Sonne
verdecken, so verdeckt die einseitige Wahrnehmung der materiellen Welt unseren Wesenskern.
Zugleich kommt es zur Ausgestaltung eines Egos. Dieses Ego ist geprägt von seiner
Identifikation mit dem Körper, mit seinem Denken und seinen Gefühlen. Es funktioniert
gemäß dem Programm seines dualen „Gut-Böse“-Denkens. Doch es vergisst dabei seinen
göttlichen Ursprung. Es glaubt an das „Schlechte“ und „Unvollkommene“ in der Welt.
Es kämpft dagegen an und erzeugt es - für sein eingeschränktes Bewusstsein - auf
diese Weise. Es hat Ängste und Sorgen und eilt auf Irrwegen seinem Glück hinterher.
Das „Ego“, das „Böse“, das „Unvollkommene“ sind Produkte des dualen Denkens. Sie
bilden für den Menschen eine mächtige „Schein-Wirklichkeit“ (Maya), in der er, wie
in einem Spinnennetz gefangen, zappelt.
Der richtige Umgang mit den Gunas, mit den in uns wirkenden Naturkräften, besteht
darin
- sie zu beobachten,
- sie als Manifestationen des universellen und individuellen Geistes zu erkennen und
- sich nicht mit ihnen zu identifizieren.
Ausführlich beschrieben werden die drei Gunas und ihre Transformation in der Bahgavad-Gita,
insbesondere im Kapitel XIV. Hier lesen wir:
„Wer gelassen beobachtet, ungestört von den materiellen Erscheinungen, wer abseits
steht, ohne zu schwanken, wissend, dass es nur die Guna-Kräfte sind, welche handeln,
wer Schmerz und Freude für gleich erachtet, in seinem eigenen Selbst wohnt, wer
einen Erdklumpen, einen Stein, ein Stück Gold, als gleich erachtet, wer bei Angenehmen
und Unangenehmen derselbe bleibt, starken Sinnes ist, von Tadel und Lob unberührt,
wer in Ehre und Unehre derselbe bleibt, derselbe gegen Freunde und Feinde, für wen
Tun und Nicht-Tun keinen Unterschied macht, der gilt als über die Erscheinungen erhoben,
wer mir (Krishna - dem eigenen Selbst) mit unerschütterlicher, liebender Hingabe
dient, erhebt sich über die drei Erscheinungsweisen; er ist tauglich, zum Brahman
(universelles Bewusstsein) zu werden.
Gita 14.22 – 14.25
Wie sind diese Worte der Gita zu verstehen und wie können wir sie praktisch umsetzen?
- Wir beobachten im Laufe des Tages, so oft wie möglich, die äußeren Vorgänge und das,
was sich in unserem Denken und Fühlen ereignet, gelassen und liebevoll und sind uns
dabei stets bewusst, dass dies nur vergängliche „Erscheinungen“ sind;
- Wir beobachten gelassen und liebevoll die Ängste unseres Egos, nicht „genug“ zu haben,
nicht genug anerkannt und geliebt zu werden, Krankheit und Tod zu erfahren;
- Wir beobachten gelassen unsere Freuden, unsere Erfolge und unseren Stolz und sind
uns dabei ihrer Bedeutung und Vergänglichkeit bewusst;
- Wir erledigen gelassen, was der Tag an Aufgaben an uns heranträgt und überlassen
dem Universum welche Früchte unseres Tuns sich einstellen;
- Wir kämpfen nicht, wir eilen nicht, wir lassen uns nicht hetzen, sondern vertrauen
darauf, dass alles einen guten Weg geht und dass letztlich nichts der universellen
Vollkommenheit entgehen kann.
- Wir sind uns stets bewusst: „Der Mensch denkt, Gott lenkt!“
Wahre Liebe zum Sein und zu allen Wesen auf unserer Erde kann nur durch radikales
Vertrauen auf die Vollkommenheit des universellen, alldurchdringenden Bewusstseins
verwirklicht werden. Das bedeutet, wie die Gita lehrt, die ständige „unerschütterliche,
liebende Hingabe zu Krishna“, zum „göttlichen Funken“ in mir. Dieser „Funken“, (das
Selbst) ist immer in uns gegenwärtig, doch meist unbemerkt. Doch wir können ihn -
den unsichtbaren - wahrnehmen, wenn wir uns bewusst machen:
- „Wer steckt hinter dem neutralen Beobachter?“
- „Wer wirkt hinter dem Denken und Fühlen?“
- „Woher kommen unsere Liebesfähigkeit, unser Sinn für Schönheit, unser Bewusstsein?“
- „Woher kommen unsere Fähigkeit zu Erkenntnis, Freiheit und Glückseligkeit?“
- Wenn du neutral beobachtest (reine Wahrnehmung praktizierst), kannst du zugleich
das Selbst, als den Beobachter bemerken.
- Wenn du neutral liebst, kannst du zugleich den Liebenden erkennen.
- Wenn du reine Glückseligkeit erfährst, erfährst du auch das Selbst.
-
In der „Kena-Upanischad“ (Upanischaden = Sammlung hinduistischer Weisheits-Lehren,
niedergeschrieben ca. 700 bis 200 v.Chr.) lesen wir über das Selbst:
„Das Selbst ist weder das Bekannte noch das Unbekannte.
Es ist das, was die Zuge sprechen lässt aber nicht von der Zunge gesprochen werden
kann.
Es ist das, was das Auge sehen lässt, aber nicht von den Augen gesehen werden kann.“
„Dieses Selbst ist niemand anderes als du.“
„Das Selbst wird realisiert, wenn du die irrige Meinung durchbrochen hast, du seist
der Körper und du seist Geburt und Tod unterworfen.
Das Selbst zu sein bedeutet, über den Tod hinauszugehen.“
Für diejenigen, die sich eingehend mit den Weltreligionen und großen Weisheitslehren
der Menschheit auseinander setzen, ist es eine Freude zu erkennen, dass die Essenz
all dieser Lehren sich nur unwesentlich von den viele jahrtausende alten indischen
Lehren unterscheidet. Für alle gilt als höchstes Lebensziel: die Verwirklichung des
„Selbst“.
Für manchen, der nicht bewusst mit seinem Selbst verbunden ist, klingen die Worte
wie „individualisierte Gottheit“, „liebende Hingabe zu Krishna“, „das Selbst“ oder
„über den Tod hinausgehen“ geheimnisvoll, phantastisch oder unerreichbar. In Wirklichkeit
wird mit solchen Worten auf eine Ebene verwiesen, die keinesfalls „außergewöhnlich“,
„abgehoben“ oder gar als „sensationell“ zu bezeichnen ist. Es ist der duale, an die
Erscheinungen gebundene Verstand, der aus dieser Dimension etwas „Übernatürliches“
macht oder sie als Hirngespinst ablehnt. Für den der diese Ebene „schauen“ kann,
handelt es sich um eine ganz natürliche Art zu sein.