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Essay-Brief März 2012

Wer bin ich?

Selbst- und Welt-Erkenntnis durch „reines Gewahr-Sein“

© Bernd Helge Fritsch

 

Unser Glücklich-Sein ist vorrangig davon abhängig, wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir auf sie reagieren. Beides liegt in unserer Hand, beides können wir steuern, wenn wir nur wach und aufmerksam genug sind.

Der „normale“ Mensch verschläft das, was wirklich in ihm vorgeht, wenn er der Außenwelt gegenüber tritt. Wenn wir mit einer Person, einem Ding oder einem Ereignis in Kontakt treten so läuft in uns ein blitzschneller Prozess ab, dessen Einzelheiten wir in der Regel versäumen. Wenn es gut geht, wird uns das Endprodukt dieses Geschehens bewusst: Wir fühlen uns gut, schlecht oder neutral; wir reagieren mit dieser oder jener Aktion in unseren Gedanken, Entscheidungen und Handlungen. Doch in der Regel nehmen die Menschen nicht bewusst wahr, was abläuft, wenn sich ihre Gefühle verändern und bemerken nicht wie sie entsprechend einer Gewohnheit, (einem Muster in uns) reflexartig reagieren. So sind sie Sklaven äußerer Einflüsse und nicht Herr ihres Lebens.

Betrachten wir den Ablauf einer Wahrnehmung Schritt für Schritt, so zeigen sich folgende

Details:

Basis jeder Wahrnehmung ist Bewusstsein – die Aufnahmebereitschaft. Wenn Sinneseindrücke, Gefühle oder Gedanken auftauchen, werden sie - so wie sie sind - vorerst ohne „Bearbeitung“ empfangen. Zum Beispiel: Ich erblicke ein rotes Gebilde, mit grünem Stil, es duftet.

 

Schon in diesem Stadium der ersten Wahrnehmung übersehen wir viele andere Dinge und Einzelheiten, die sich unseren Sinnen anbieten. Wir sind für sie nicht aufnahmebereit. Wir nehmen eine unbewusste „Selektion“ vor und registrieren nur gewisse Sinneseindrücke, die für uns auffällig sind, die für uns wichtig sind, die uns interessieren.

Als nächstes werden die Daten automatisch vom persönlichen Geist identifiziert, das heißt in die vorhandenen Erinnerungen (Kenntnisse und Begriffe) eingeordnet. Ich erkenne das Gebilde auf Grund seiner Form, Farbe und seines Geruches als Pflanze mit dem Gattungsnamen (Etikett) „Rose“. Die Interpretationen von Form, Farbe, Geruch und die Benennung/Einordnung als „Pflanze“, „Blume“ oder „Rose“ entspringen bereits meinen „Zugaben“ zu den reinen Sinneseindrücken.

Im folgenden Schritt wird sofort eine Bewertung vorgenommen wie: „nützlich – unnütz“, „interessiert mich – interessiert mich nicht“ oder „schön, gefällt mir, mag ich haben!“ oder „ich kann rote Rosen nicht leiden, sie sind kitschig!“ „erinnert mich unangenehm an eine unglückliche Liebe…“. Jetzt sprechen nur mehr mein „Ich“, meine Konditionierung, meine Vorlieben und meine Abneigungen. Diese Bewertungen haben mit dem ursprünglichen Gegenstand der Beobachtung nichts mehr zu tun. So entsteht und verfestigt sich „meine Welt“ von der ich gewöhnlich glaube, sie sei objektiv, real, außerhalb und unabhängig von mir vorhanden.

Zuletzt erfolgt meist eine rasche Reaktion: „Will ich haben!“ oder „Ich sollte Rosen in meinem Garten anpflanzen!“ oder Ablehnung: „Brauch ich nicht! Wertloses Zeug, macht nur Mist und Arbeit!“.

Den ganzen Tag sind wir mit unzähligen Wahrnehmungen konfrontiert und immer wieder läuft im Prinzip derselbe, zuvor beschriebene, Vorgang ab. Das Bedenkliche dabei ist nicht die Einordnung in mein Wissen, in meine Erfahrungen. Die Probleme entstehen durch subjektive Bewertungen verbunden mit Ablehnung oder Verlangen. Das kann so aussehen: „Ich brauch das unbedingt für mein Glück!“ „Ich möchte auch so erfolgreich, so reich, so schön sein!“ „Das ist ja schrecklich!“ „Wie unmöglich ist diese Person!“ „Ich werde nicht beachtet, nicht verstanden!“ „Das stresst mich!“ „Hoffentlich geht das nicht schief!“ „Das ängstigt mich!“ und so weiter… Insbesondere durch die negative Beurteilung von Lebenssituationen und Personen verstricken wir uns in Probleme, welche sich letztlich in Leid und Krankheit manifestieren.

Es stimmt: ohne Bewertungen können wir den Alltag nicht meistern. Gegen Bewertungen ist dann nichts einzuwenden, wenn sie:

   notwendig sind um alltägliche oder auch besondere Entscheidungen zu treffen und

   nicht von Emotionen, unreflektierten Mustern und Vorurteilen des Egos bestimmt sind.

 

Wir neigen allzu gern dazu Menschen, Dinge und Situationen unnötiger Weise zu analysieren und zu benoten, obwohl dafür keine Notwendigkeit besteht. Wie gerne wollen wir etwas für uns allein haben. Wie schön ist es, den Splitter im Auge des anderen zu betonen und dabei den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Doch diese Art der Betrachtung der Welt trennt uns von ihr und lässt uns nicht ihre Wahrheit und Schönheit erkennen.

Es ist relativ einfach einer Rose, einem Haustier oder einer Landschaft ohne Bewertung und ohne Ego-Emotionen zu begegnen. Anders sieht die Sache aus bei Personen, die uns nahe stehen, wie beim Partner, den eigenen Kindern, bei der Chefin am Arbeitsplatz oder wenn sich Ereignisse anders als erwünscht und erwartet entwickeln.

Das Ego ist geprägt von Begehren und Ablehnung, von Erwartungen, Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und Sorgen. Sobald dieses „kleine Ich“ ins Spiel kommt, verzerrt sich unsere Wahrnehmung, tritt Verwirrung ein, reagieren wir ohne Klarsicht und Feingefühl, schaffen wir Karma und müssen wir leiden.

Selbstlose Liebe und wahre Freude können sich nur entfalten, wenn das Ego schweigt, wenn wir die Dinge, Verhältnisse und Menschen so erkennen und akzeptieren können, wie sie sind, anstatt sie entsprechend unseren Gewohnheiten, Wünschen, Begierden und Abneigungen zu be- und verurteilen.

Wenn wir uns selbst und die Welt verstehen wollen, so kann dies nur über eine sorgfältige Selbstbeobachtung erfolgen. Keine Religion, keine heiligen Schriften, keine Lehrreden können uns die Antwort auf die Frage geben: „Wer bin ich?“. Denn die Antwort kann nicht durch Worte erkannt, sondern nur im eigenen Herzen erfahren werden.

 

Selbsterkenntnis ist notwendig, um mit sich selbst und mit der Welt besser zurecht zu kommen. Sie ist notwendig, damit wir die Sinnlosigkeit unserer Sorgen erkennen, damit wir bessere Entscheidungen treffen und effektiver mit unseren Energien umgehen können.

Selbsterkenntnis ist notwendig, um ungetrübtes Glücklich-Sein, tiefen anhaltenden Frieden und allumfassende Liebe zu verwirklichen.

Selbsterkenntnis benötigt fortlaufendes achtsames Hinhorchen auf die Vorgänge im eigenen Körper und im eigenen Mind (Denken, Fühlen, Wollen).

 

Sowohl das Tier als auch der Mensch haben Bewusstsein. Dieses Bewusstsein entsteht durch Sinneseindrücke und deren seelische Verarbeitung. Der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion. Gautama Buddha erklärt uns in dem berühmten Sattipathana Sutra (Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit) wie rechte Achtsamkeit vor sich gehen sollte, in etwa mit den Worten:

„Wenn ich gehe, so weiß ich, dass ich gehe!“…

„Wenn ich ein freudiges Gefühl empfinde, so weiß ich, dass ich ein freudiges Gefühl empfinde!“…

„Wenn in mir Zweifel ist, so weiß ich, dass in mir Zweifel ist!“…

 

Gewöhnlich sind wir bei dem, was wir tun, denken und fühlen nicht dabei. Während wir von einem Ort zum anderen gehen, sind wir nicht bei unserem Körper, nicht bei unseren Bewegungen, sondern mit den Gedanken irgendwo anders und selbst bei diesen Gedanken sind wir nicht dabei. Wir bemerken die meiste Zeit nicht welcher „Film“ gerade in uns abläuft.

Im seinem „Normalzustand“ hat der Mensch sich selbst verloren. Das macht ihn zwangsläufig unglücklich. Er ist nicht bei sich. Er fühlt nicht seine innere Vollkommenheit. Er ist nicht zentriert, sondern zerstreut, gelangweilt, gehetzt, frustriert, nervös, unzufrieden, voller Wünsche, Ziele und Hoffnungen. Er verweilt mit seinen Gedanken in der Vergangenheit, die nicht mehr ist oder in der Zukunft, die noch nicht ist. So verpasst er das wirkliche Leben, das wunderbare raum- und zeitlose Sein.

Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Misere und der ist ganz einfach: Die Achtsamkeit auf das lenken, was jeweils „jetzt“ in mir vorgeht, sowohl im Umgang mit der Außenwelt als auch in den Zeiten der Stille und Einkehr bei sich selbst. Das ist keine Neuigkeit! Das lehrte Siddhartha Gautama bereits vor rund 2500 Jahren mit den Worten: „Der einzige Weg ist dies, o Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Schwinden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung der rechten Methode, zur Verwirklichung des Nibbana (Sanskrit Nirvana – endgültige Befreiung), nämlich die Umsetzung von Achtsamkeit…“

Wenn wir das Prinzip der Achtsamkeit auf die vier oben beschriebenen Schritte der Wahrnehmung anwenden, so müssen wir den gewöhnlich blitzschnell ablaufenden Vorgang der Sinneswahrnehmung, Beurteilung und Reaktion sorgfältig beobachten. Dadurch tritt eine wohltuende Verlangsamung der inneren Vorgänge ein. Wir gewinnen Abstand, werden zum gelassenen, in sich ruhenden Zeugen des Geschehens. Je öfter wir das vollziehen, desto eher bemerken wir, wo die anfänglich reine Beobachtung in reflexartiges Beurteilen, Verurteilen, in Begehren und Ablehnung übergeht. Und zugleich wird uns bewusst, welche Spielchen, unser Ego mit uns treibt.

„Reine Wahrnehmung“ hat eine befreiende Wirkung. Denn sie erlöst uns davon, bei Ereignissen nach alten Mustern reagieren zu „müssen“. Sie ermöglicht, dass wir mit unseren Gedanken und Gefühlen besser „umgehen“ können. Gedanken und Gefühle die gewöhnlich unkontrolliert, wie Nebelfetzen im Wind daherkommen, uns mitreißen und wieder davon eilen, werden durch Achtsamkeit wie „Dinge“ im Raum, die wir handhaben können, wie es für uns richtig ist. Nur so können wir unserem Wesen entsprechen. Nur so kann sich Liebe zu mir selbst und anderen entfalten.

Unter „reiner Wahrnehmung“ verstehen wir auch eine Art wache, behutsame „Enthaltsamkeit“ im Denken und Beurteilen. Diese Enthaltsamkeit kann man sowohl im Alltag als auch in Zeiten bewusster Abschaltung äußerer Eindrücke (Meditation) üben. Auf diese Weise beruhigt sich unser Mind. Hektik, Stress, Unruhe, das Gefühl überfordert zu sein, das Gefühl sich in den Ereignissen zu verlieren werden als selbstproduziert erkannt und lösen sich auf.

 

Eine besondere Art des Geistes-Trainings besteht in der Beobachtung der Atembewegung, wie ich sie im letzten Erfolgsletter beschrieben habe.

Wenn wir uns selbst verstehen, so verstehen wir auch die Welt. Denn tatsächlich sind wir die Welt! Allerdings ist dieser Wahrheit mit dem gewöhnlichen „Oberflächenbewusstsein“ nicht zu begreifen. Doch im Zuge des „Erwachens“ durch Achtsamkeit, erkennen wir immer besser wie wir wirklich „ticken“.

Reine Wahrnehmung öffnet den Weg zur Selbsterkenntnis. Diese ermöglicht Selbstveränderung und führt schließlich zur Eins-Werdung mit dem, was wir wirklich sind. Dieses „Selbst“ spottet jeder Beschreibung, weil es nicht erkannt, sondern nur gelebt werden kann. Die alten indischen Weisen deuten es an mit den Worten: „Sat – Chit – Ananda“ (Sein – reines Bewusstsein – Glückseligkeit).

 

 

Bernd Helge Fritsch